Die herzzerreißende Geschichte einer afghanischen Frau
RAWA report 20. Dezember 2001
Von einer RAWA-Helferin aus KabulAm siebten November 2001, ungefähr um 10 Uhr morgens, saßen ein paar Frauen auf der Strasse zusammen, die zur Pol-Kheshty-Moschee führt, und verkauften alte Haushaltsgegenstände und mit Blumen bestickte Tischdecken.
Einer von ihnen nickte ich zu und wir grüßten uns. Sie hatte Kopf und Körper mit einem Schleier verhüllt. Vor sich hatte sie einige sehr alte Sachen ausgebreitet, wie Tischdecken, alte Taschentücher mit Blumenmustern, einige Plastikteller, einen Dampfdruckkochtopf und ein paar russische Teetassen, die sie versuchte zu verkaufen.
In diesem Moment sahen wir auf einmal einen Verkehrspolizisten, der einen Stock schwenkte, über die Strasse kommen und auf uns zugehen. Er verängstigte die Frau, indem er mit lauter Stimme rief: "Hey, du, hab ich dir nicht gesagt, dass du abhauen sollst und dich woanders hinsetzen?" Und dann trat er nach den Haushaltsgegenständen, so dass sie in der Gegend herumflogen. Die Frau war hilflos, sie weinte und bettelte, aber er zeigte kein Mitgefühl. Dann sammelte sie ihre Sachen auf und brachte sie in eine abgelegene Ecke, weg von der Hauptstraße. Sie brauchte Hilfe, also half ich ihr, indem ich einige ihrer Sachen aufhob und zu ihrem Platz brachte. Sie dankte mir wieder und wieder und sagte: "Friede sei mit dir, liebe Schwester, diese Tyrannen quälen mich jeden Tag, ich kann keinen außer Gott um Gerechtigkeit anflehen."
Ich fragte sie: "Liebe Schwester, hast du keinen Mann oder erwachsene Kinder?" Sie antwortete: "Wenn ich erwachsene Kinder oder einen Mann hätte, dann wäre ich ja nicht so hilflos." Ich fragte, ob ihr Mann getötet worden sei oder ob sie nie geheiratet hätte? Die arme Frau seufzte tief, wartete und sagte dann: "Das ist eine lange Geschichte. Warum solltest du dich mit meinen Sorgen belasten?"
Ich sagte zu ihr: "Betrachte mich als deinen Bruder oder als deinen Vertrauten und erzähle mir von dir." Ich hatte so ein Gefühl, dass sie ziemlich intelligent und belesen sei, und dass sie eine gewisse Bildung genossen haben muss.
Ich fragte sie: "Bist du zur Schule gegangen? Kannst du lesen und schreiben?", und sie antwortete: "Du bist so hartnäckig mit deinen Fragen."
"In Ordnung, dann setz dich zu mir und lass mich dir von mir erzählen, und über das, was mir im Herzen wehtut".
Also setzte ich mich neben sie und hörte ihr zu. Sie sagte: "Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll." Dann seufzte sie wieder, ihr traten die Tränen in die Augen, und fuer ein paar Sekunden konnte sie nichts sagen, weil sie sonst in Tränen ausgebrochen wäre. Dann sagte sie: "Ich heiße Nasima. Ich bin im Stadtteil Chahar-assiab in Kabul geboren worden. Als ich zwei Jahre alt war, hatte mein Vater ein Haus im Stadtteil Deh-Bouri gemietet und begann, als Arbeiter in Silo (der größten staatlichen Bäckerei Kabuls) zu arbeiten. Das Leben war nicht leicht für uns. Ich hatte drei Brüder und wir waren zwei Schwestern. Zwei meiner Brüder waren älter als ich. Als die Russen während der Zeit von Najeeb in Afghanistan waren, haben sie meinen ältesten Bruder in den Militärdienst gepresst. Er hatte das Gymnasium beendet. Im Jahre 1989 wurde er in Khost durch die Mujaheddin zum Märtyrer gemacht (getötet, Anm. d. Übersetzers).
"Bevor die Militaer-Presser der Regierung meinen zweiten Bruder holen kommen konnten, floh er nach Paghman und tat sich mit den Mujaheddin zusammen, um gegen die Russen und ihre Marionetten zu kämpfen."
"Ich war damals in der Grundschule, genau wie meine kleine Schwester. Mein Vater war Arbeiter in der Bäckerei. Mit seinem Lohn und den rationierten Essensmarken konnten wir überleben.
"Später, im Jahre 1991, wurde mein zweiter Bruder durch die Glim-Jam-Truppen des Generals Dostum in Paghman gefangengenommen, zusammen mit anderen Soldaten. Auch er wurde zum Märtyrer. Sie haben seine Leiche zu uns nach Hause gebracht. Ich war in der elften Klasse im Gymnasium Rabee Kalkhi.
Mein Vater konnte den Verlust seiner beiden jüngeren Söhne nicht verwinden. Sein Bart wurde weiß. Er alterte schnell. Er wurde sehr krank und kam ins Ali-abad-Krankenhaus. Ein paar Tage später starb er.
Jetzt waren nur noch meine Mutter und wir drei Kinder übrig, mein kleinster Bruder, meine kleine Schwester und ich.
An diesem Punkt wussten wir nicht, was tun. Um es kurz zu machen, meine Mutter ging arbeiten, sie wurde Putzfrau.
Und ich bin zuhause geblieben und habe Kleider und andere Sachen genäht. Meine Mutter und ich haben kaum genug zum Überleben verdient. Mein Bruder arbeitete den halben Tag in einem workshop als trainee, und die andere Hälfte des Tages ging er zur Schule, genauso wie meine kleine Schwester, den halben Tag in die Schule und am Nachmittag nähen.
Schließlich war da ein Mann, der im Wirtschaftsministerium arbeitete, der sagte, er wolle mich heiraten. Meine Mutter willigte ein und im Jahre 1992 haben wir geheiratet.
Meinem Mann ging es finanziell auch nicht gut. Wir lebten im Stadtteil Qole-abchakam in Kabul. Später, im nächsten Jahr, hat auch meine Schwester geheiratet. Gott schenkte mir zwei Töchter.
Im Jahre 1995 brachen erbitterte Kämpfe zwischen den Kämpfern der Wahdat Partei (einer pro-iranischen fundamentalistischen kriminellen Bande) und den Kräften von Abdul Rasul Sayyafs aus (eine brutale Fundamentalisten-Gruppe, von Saudi-Arabien unterstützt) aus. Das war ein Kampf zwischen machthungrigen, opportunistischen Schlachtern. Eine verirrte Rakete traf das Haus, wo meine Mutter und meine Schwester lebten. Meine Mutter und mein kleinster Bruder wurden getötet. Wir haben nicht einmal ihre Leichen gesehen; die Wahdat-Partei beherrschte die Gegend und keiner traute sich dorthin, weil sie alle getötet haben, die zu den Volksstämmen der Tajik und der Pushtoon gehörten.
Es war eine weitere schmerzliche, immerwährende Wunde, meine Mutter und meinen jüngsten Bruder zu verlieren.
In den letzten Augusttagen 1996 haben die Taliban um die Übernahme Kabuls gekämpft. Sie haben die Hügel im Norden der Stadt eingenommen. Von diesen Bergen aus schossen sie Raketen ab, viele von ihnen verfehlten ihr Ziel und trafen Zivilisten. Eins ihrer Ziele war der Fernsehturm.
Eines Tages, um sechs Uhr morgens, verirrte sich eine für den Fernsehturm gedachte Rakete. In unserem Haus im Stadtteil Qole-Abchakan hörten wir eine unbeschreibliche Explosion. Staub und Rauch füllten die ganze Gegend. Es war so dicht, dass wir nichts sehen konnten, und wir konnten kaum atmen. Ich war im Erdgeschoss, ich bereitete Tee für den Morgen zu. Die Druckwelle der Explosion warf mich zu Boden. Nach einigen angsterfüllten Augenblicken konnte ich aufstehen, und ich rannte aus dem Haus. Dann rannte ich zur Tür, die auf die Strasse führte. Diese Augen, die Blut, Mord und Tod mitangesehen haben, sahen nun meinen blutdurchtränkten Mann. Der größte Teil seines Brustkorbs und seines Bauches waren weg, da waren nur riesige, klaffende Löcher. Mehrere Male rief ich seinen Namen: "Qudrat, Qudrat", immer lauter und lauter, aber er hat sich nicht bewegt.
Ich schrie, ich schrie zu Gott: "Oh Gott, was mach ich jetzt?", dann weinte ich und ich schluchzte, ich warf Erde in die Luft und über meinen Kopf. Ein paar Minuten lang dachte ich überhaupt nicht an meine Kinder. Frauen aus der Nachbarschaft sammelten meine Kinder ein und kümmerten sich um sie. Meine zwei Töchter wurden unversehrt unter den Trümmern hervorgezogen, und mein Mann wurde zum Märtyrer.
In meiner Seele wurde alles schwarz, wie mitten in der Nacht.
Einige Monate später bekam ich ein drittes Kind, aber seit dem Tag, an dem ich meinen Mann verlor, bin ich mit den drei Kindern von einem Ort zum anderen gezogen, in der Hoffnung, dass Gott meine Kinder beschützen möge. Mein jüngstes Kind ist mir besonders lieb und wärmt mein Herz.