DIE WELT, 28. November 2001 |
Rebellinnen des Herzens
Von Cheryl Benard und Edit Schlaffer
Frauen in Afghanistan leisteten mutigen Widerstand, hielten eine Zivilgesellschaft am Leben. Ihre Stimme fehlt, wenn Anfang der Woche in Bonn über die Zukunft des Landes geredet wird
Francesc Vendrell, UN-Sonderbeauftragter für Afghanistan, traf letzte Woche im soeben befreiten Kabul ein. Er ruft zu einer Generalversammlung auf. Tausende kommen - tausende Männer. Vor einem Meer von Turbanen hält Vendrell eine inspirierende Rede. Es gehe nun darum, die Zukunft Afghanistans zu bestimmen. Ein neues Land zu bauen. Und alle würden daran beteiligt sein. Jede Stimme werde Gehör finden.
Pardon: alle? Fehlt hier nicht jemand? Die halbe Bevölkerung vielleicht? Einige hunderte afghanische Frauen unternehmen daraufhin am Dienstag den heroischen Versuch, sich in Erinnerung zu bringen. Unter der Führung einer Ex-Politikerin aus besseren Tagen, Soraya Parlika, versammeln sie sich an einem Kabuler Hauptplatz. Sie wollen zum Compound der Vereinten Nationen marschieren und verlangen, dass Frauen dabei sein sollen, wenn demnächst in Bonn verhandelt wird. Bewaffnete Soldaten der Nordallianz verbieten den Demonstrationszug und vertreiben die Frauen. Der Sonderbeauftragte lässt es geschehen. Er will "jede Stimme" hören - Frauenstimmen nicht?
Sein Vorgesetzter, Lakhdar Brahimi, beauftragt mit der Bildung einer neuen afghanischen Regierung, hat mittlerweile das Konzept für das Bonn-Treffen fertig gestellt. Die wichtigen und relevanten Parteien sollen dort zusammenkommen und eine Formel finden, um die Macht unter sich aufzuteilen. Brahimi hat die vier Gruppen identifiziert, die ihm vertretungswürdig erscheinen: die Nordallianz, die "Rom Gruppe", die "Zypern Gruppe" und die "Peshawar Gruppe" - eine etwas exzentrische Auswahl. Hart gesagt, treffen sich in Bonn zwei Fraktionen, um untereinander die Pfründe zu verteilen: die Krieger und die Kriegsgewinnler. Frauen gelten offenbar nicht als relevant. Die eine oder andere Delegation wird sich vielleicht mit einer Alibi-Frau schmücken - üblich sind für diesen Zweck Töchter der Elitefamilien.
Dabei hatte UN-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson im Vorfeld die Beteiligung von Frauen an den Friedensgesprächen gefordert, um "das System aufzumischen". Das U.S. State Department verkündete, die "afghanischen Frauen hätten das Recht, ihre Rolle in einer neuen Regierung selbst zu bestimmen." Resolution 1325 des Sicherheitsrates fordert explizit die Beteiligung von Frauen bei allen Übergangsregierungen oder Friedensverhandlungen, die unter UN-Sponsorenschaft stattfinden. Wunderbar. Und wo sind sie jetzt, die Frauen? Einige Delegationen haben Frauen dabei, aber mehr zur Dekoration als zur politischen Arbeit.
Ohne die Frauen wird jedoch kein Wiederaufbau stattfinden. Der lange Krieg in Afghanistan hat viele Männerleben gekostet, und nun sind Frauen die deutliche Mehrheit der afghanischen Bevölkerung. Angesichts der vielen Kriegsversehrten ist das Konzept des männlichen Familienernährers sowieso nicht schlüssig; vielen Familien steht de facto eine Frau vor.
Afghanische Frauen sind ein guter politischer Einfluss. Die ethnischen Trennungslinien, die den Männern immer wieder als guter Kampfgrund gelten, interessieren ihre Frauen nicht oder viel weniger. Den Frauen ist daran gelegen, dass endlich Ruhe herrscht und ihre Kinder endlich bessere Lebenschancen haben. Ihre Stimme ist die Stimme der Vernunft und der Pragmatik, ein wichtiges Korrektiv für die ritualisierten Positionierungen ihrer Männer.
Traditionelle Gesellschaften wie Afghanistan sind auf einer deutlichen Geschlechtertrennung aufgebaut. Das heißt, dass Männer sehr wenig wissen über das Leben von Frauen und Kindern. Sie sind gar nicht in der Lage, diese Bevölkerungsteile politisch zu vertreten oder für sie zu sprechen. Entwicklungspolitisch ist das folgenschwer, weil Bildungsprogramme, Gesundheitsprogramme und dergleichen dann nicht greifen können.
Aber der interessanteste und wichtigste Grund ist der: Afghanische Frauen sollten in Bonn als eigene Fraktion vertreten sein, weil sie in all den schlimmen Jahren des fundamentalistischen Terrors diejenigen waren, die in Afghanistan eine funktionierende und eindrucksvolle Zivilgesellschaft am Leben hielten und den effektivsten zivilen Widerstand leisteten.
Erst langsam erfährt die Außenwelt, was Frauen dem Taliban-Regime zum Trotz alles riskiert und geleistet haben. Die Frauengruppe RAWA ist besonders eindrucksvoll. Mit Mitgliedern in Afghanistan und Pakistan bauten sie einen umfassenden Widerstand auf. Sie unterhielten geheime Mädchenschulen. Sie organisierten Alphabetisierungskurse für Frauen. In den Flüchtlingslagern betrieben sie kostenlose Schulen für Mädchen und Jungen. Sie etablierten Waisenheime. Um Witwen einen Lebensunterhalt zu ermöglichen, schufen sie Arbeitsprojekte: eine Hühnerfarm, eine Kreidefabrik, eine Bienenzucht. Sie stellten mobile Gesundheitsteams auf. Ihre mutigsten Aktivistinnen agierten im Untergrund. Sie halfen gefährdeten Menschen, Angehörigen verfolgter Minderheiten, zur Flucht aus Taliban-Gebieten. Um der Außenwelt Informationen und Beweise über die Exzesse und Menschenrechtsverletzungen der Taliban zukommen zu lassen, kamen sie auf eine brillante, aber sehr gefährliche Idee. Dass Frauen laut Taliban-Befehl die Burqa tragen mussten, machten sie sich zu Nutze. Nicht nur, wie bisher schon, um Unterrichtsmaterial in die Geheimschulen zu schmuggeln, sondern um mit verborgenen Kameras zu filmen und zu fotografieren. In dieser Weise entstanden dramatische, erschreckende Bilder und Berichte: Ein Zahnarzt, der mitsamt seinen Patientinnen von den Taliban geprügelt wird, weil er Frauen behandelt hat. Eine Frau, die öffentlich hingerichtet wird. Erhängungen. Taliban-Soldaten, die fröhlich einen Schubkarren voll mit strafhalber amputierten Füßen und Händen durch die Straße rollen. Ein Arzt, in Tränen, weil man ihn zu diesen Amputationen gezwungen hat. Wären RAWAs Mitarbeiterinnen bei der Aufnahme der Bilder ertappt worden, sie wären sofort getötet worden.
Die tausende von Frauen, die zu RAWA gehören oder mit RAWA zusammenarbeiten, haben für die Freiheit ihres Landes gekämpft, wenn auch nicht mit Gewehren. Sie haben Mut gezeigt und darüber hinaus auch ihre Fähigkeit, Infrastruktur zu errichten, soziale Dienste zu organisieren, Selbsthilfe zu betreiben. Sie sind regierungsfähig, das haben sie über Jahre unter schwersten Umständen bewiesen. Sie wären im Stande, das Land aufzubauen. Aber keine Frau von einer unabhängigen Organisation wie der RAWA ist dabei, wenn in Bonn getagt wird.
Allerdings: Es wird vermutlich nicht so leicht gelingen, die afghanischen Frauen und RAWA sang- und klanglos hinter der Burqa der internationalen Männerdiplomatie verschwinden zu lassen. Das Schicksal der afghanischen Frauen hat weltweit große Aufmerksamkeit erregt.
Cheryl Benard und Edit Schlaffer leiten in Wien die Ludwig Boltzmann Forschungsstelle für Politik und zwischenmenschliche Beziehungen