SPIEGEL, 06. November 2001 |
FRAUEN IN AFGHANISTAN
Die Stimme hinter dem Schleier
Von Carolin Ströbele
Bei den Verhandlungen über eine Zukunft Afghanistans sind bisher 50 Prozent der Bevölkerung kaum beachtet worden: die Frauen. In der Vergangenheit zum Schweigen gezwungen, hoffen sie, in einer neuen Regierung Gehör zu finden.
Seit Kriegsausbruch in Afghanistan ist das Thema Frauendiskriminierung wieder in die Öffentlichkeit gerückt. Die systematische Entrechtung der Frauen durch die Taliban wurde zwar von der westlichen Welt zur Kenntnis genommen, doch schien das Leid der Frauen nach und nach vor der Weltöffentlichkeit zu verschwinden - wie sie selbst hinter ihren unförmigen Ganzkörperschleiern, den Burkas. Dabei gibt es wohl kaum ein Land, in dem Frauen so wenig Rechte besitzen. Kein Zugang zur Bildung, keine Arbeitserlaubnis, kein Ausgang ohne männlichen Begleiter - das ist nur ein Auszug einer Liste von Menschenrechtsverletzungen, die die Revolutionäre Vereinigung Afghanischer Frauen (RAWA) anprangert.
Afghanische und internationale Frauen- und Menschenrechtsorganisationen wie RAWA, Terre des Femmes in Deutschland oder der Entwicklungsbund für Frauen der Vereinten Nationen (Unifem) fordern nun nachdrücklich eine Beteiligung der Frauen an einer künftigen demokratischen Regierung des Landes. Als Ziel nennen sie eine anti-fundamentalistische, demokratische und gleichberechtigte Gesellschaft in Afghanistan.
Entwicklungen in diese Richtung hat es bereits gegeben - in den sechziger und siebziger Jahren herrschte Berichten von Amnesty International zufolge eine regelrechte Aufbruchsstimmung unter den afghanischen Frauen. Mit der Verfassung von 1964 wurden sie rechtlich gleichgestellt und erhielten das Wahlrecht. Frauen durften selbst entscheiden, ob sie einen Schleier trugen oder nicht, erhielten Zugang zu Ausbildungsstätten und nahmen an Regierungsgeschäften teil.
Miniröcke in Kabul
Weitere Lockerungen ergaben sich in den Jahren vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen. Die kommunistisch geprägte Demokratische Volkspartei Afghanistan verbot traditionelle Praktiken wie beispielsweise die Entrichtung eines Brautpreises oder Zwangsheiraten und setzte das Heiratsalter herauf. Frauen arbeiteten als Lehrerinnen, Ärztinnen und Krankenschwestern und spielten vor allem in den Städten eine wichtige Rolle in der Öffentlichkeit. Der westliche Einfluss spiegelte sich auch in der Kleidung wieder: Miniröcke waren in Kabul Ende der siebziger Jahre keine Seltenheit.
Diese Aufbruchsphase dauerte jedoch nicht lange. Bald überschatteten die Wirren des Bürgerkriegs die aufkeimende Emanzipation und für die Frauen begann ein Leidensweg von mittlerweile über zwei Jahrzehnten. Sie waren nicht nur den ständigen Kämpfen und Hungersnöten ausgesetzt, sondern wurde auch von den kämpfenden Milizen als "Kriegsbeute" missbraucht. Organisationen wie Amnesty International und Unifem berichten übereinstimmend von systematischen Vergewaltigungen während des Bürgerkriegs. Wie im Bosnien-Krieg, so sei auch in Afghanistan der sexuelle Missbrauch von Frauen, der in der muslimischen Gesellschaft gleichzeitig als Entehrung der gesamten Familie gilt, gezielt als Kriegswaffe eingesetzt worden.
Ein Neuanfang in dem kriegsgebeutelten Land unter Mitwirkung der Frauen werde ein "harter Weg", meint Christa Stolle, Geschäftsführerin der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes in Tübingen. Zu zersplittert sei die Gesellschaft nach 20 Jahren des Bruderkriegs. Außerdem werde sich die islamisch geprägte Gesellschaft nicht ohne weiteres mit Neuerungen abfinden, fürchtet Stolle. Schließlich wurden die Ansätze zur Gleichberechtigung auch nur in der Großstadt verwirklicht, in den ländlichen Gebieten war die zunehmende "Verwestlichung" stets kritisch beobachtet worden.
Aus diesem Grund beschränken sich die politischen Forderungen der Afghaninnen momentan noch auf eine generelle Regierungsbeteiligung, sagt Stolle. Auf einem Kongress in Brüssel Anfang Dezember sollten sich verschiedene afghanische Frauengruppen über ihre Ziele und Vorstellungen austauschen. Der Veranstalter, die länderübergreifende Frauenrechtsorganisation European Women's Lobby (EWL) wolle den Frauen die Möglichkeit eröffnen, sich auf eine gemeinsame Agenda zu einigen und eine Erklärung zu ihren politischen Forderungen zu verfassen.
"Hungrige Wölfe" der Nordallianz
Deutlicher formuliert die afghanische Frauenrechtsorganisation RAWA ihre Ziele: Sie fordert die Beteiligung aller ethnischer Gruppen und Religionen bei der Errichtung einer Übergangsregierung und der Vorbereitung zu Neu-Wahlen. In einer offiziellen Erklärung warnt RAWA vor der Stärkung der oppositionellen Nordallianz durch die USA. Die islamischen Krieger hätten in den vergangenen Jahren ebenso für Terror und Vandalismus gestanden wie die Taliban. Indem die USA den Kriegern "das Schwert schärfe", zerstöre sie die Hoffnung der Menschen auf eine stabile demokratische Regierung. Die Gruppen der Nordallianz lauerten nach Angaben von RAWA "wie hungrige Wölfe" vor Kabul und warteten nur darauf, eine alleinige Herrschaft auszubauen.
Vor diesem Hintergrund muss die Ankündigung des Uno-Generalsekretärs Kofi Annan über die Bildung einer nationalen Militärregierung den RAWA-Mitgliedern wie Hohn in den Ohren geklungen haben. Der Friedensnobelpreisträger hatte am Montag in einem Interview mit der französischen Zeitung "Le Figaro" gesagt, die "beste Garantie" für eine stabile Regierung sei seiner Ansicht nach "eine nationale Friedenstruppe", bestehend aus den "verschiedenen Milizen im Land". Ein Uno-Protektorat für Afghanistan hatte Annan im gleichen Zusammenhang entschieden zurückgewiesen.
Ohne die Uno wird es nicht gehen
Stolle von Terre des Femmes ist fassungslos angesichts dieser Ankündigung. "Man braucht doch Hilfe von außen", sagt sie. "Gerade jetzt kommt es ganz stark auf die Organisationen an. Ohne Uno wird es nicht gehen." Die Vereinten Nationen sollten nach Forderungen von Terre des Femmes "runde Tische unterstützen", bei denen sich Exilafghanen zusammensetzen können und auch Frauen beteiligt sind. "Es gibt etliche Frauen, die etwas tun wollen", berichtet Stolle. Gerade in der momentanen Situation, "wenn alles am Boden liegt", sehe sie eine Chance für Afghaninnen, endlich ihre Rechte einzufordern.
Auch die Uno-Frauenorganisation Unifem betonte auf einem Treffen in New York vergangenen Mittwoch die Notwendigkeit einer Regierungsbeteiligung der Frauen. Jamila, eine Kongressteilnehmerin, die ein Netzwerk für afghanische Frauen in pakistanischen Flüchtlingslagern leitet, betonte die Bereitschaft der Afghaninnen, Verantwortung für ihr Land zu übernehmen: "Nur weil wir einen Schleier tragen, heißt das nicht, das wir keine Stimme haben."