Salon.com, 2. Oktober 2001

Die tapfersten Gegnerinnen der Taliban

Von Janelle Brown

Eine im Untergrund arbeitende Widerstandsbewegung aus afghanischen Frauen riskiert Folter und Hinrichtung, um die Welt über die Grausamkeiten des Taliban-Regimes aufzuklären. Eine der Freiheitskämpferinnen erzählt Salon ihre Geschichte.


2. Oktober 2001. Das Filmmaterial ist wacklig und unscharf aber nichtsdestotrotz aufwühlend: Ein Fußballstadion in Afghanistan ist voller Menschen, aber es findet kein Spiel statt. Stattdessen fährt ein Geländewagen ins Stadion, beladen mit drei in Ganzkörperschleier (Burqas) gehüllte Frauen.

Bewaffnete Männer mit Turbanen zerren eine Frau vom Wagen und lassen sie auf der Elfmeterlinie niederknien. Verwirrt und orientierungslos versucht die Frau, sich umzudrehen, als ihr auch schon der Lauf einer Pistole an den Hinterkopf gedrückt wird. Ohne jegliche Begleitfanfare wird sie erschossen. Die wacklige Videokamera erfasst die johlende Menge, Menschen stehen auf, um eine bessere Sicht auf die Leiche zu haben. Die blauen Falten der Burqa färben sich rot.

Diese öffentliche Hinrichtung ist eines der schockierendsten Filmdokumente, vielleicht das aussagekräftigste Dokument, das dem Westen über die Schreckensherrschaft der Taliban vorliegt. Diese Szene ist jedoch lediglich Teil der erschreckenden stundenlangen Dokumentation "Unter dem Schleier", das im Moment auf CNN zu sehen ist. Zusammengestellt von der halbafghanischen BBC-Reporterin Saira Shah, die letztes Jahr inkognito in Afghanistan drehte, fängt "Unter dem Schleier" eindrucksvoll das furchtbare Leben unter den Taliban ein - öffentliche Hinrichtungen für solch geringfügige Vergehen wie Prostitution oder Ehebruch, die Brutalität der Religionspolizei, die Massaker an Zivilisten, die das Pech haben, an der Frontlinie zur Nordallianz zu leben.

Bei ihren Aufnahmen besuchte Shah die Häuser afghanischer Bürger, und sie ging zu den Schlachtfeldern, stets auf der Hut vor dem "Ministerium für die Vermeidung des Lasters und die Förderung der Tugend", die sie wegen illegalen Filmens ins Gefängnis geworfen hätten - alle unautorisierten Aufnahmen sind verboten. Sie besuchte Gebiete der Nordallianz und ein Dorf, wo die Taliban Dutzende von Zivilisten einige Wochen zuvor grausam umgebracht hatten - ein lokaler Hochzeitsphotograph hatte gefilmt, wie die überlebenden Dörfler die verstümmelten und skalpierten Leichen ausgruben. Dort hatte Shah auch drei Mädchen im Teenager-Alter getroffen, deren Mutter von den Taliban getötet worden war. Sie waren so traumatisiert von dem, was die Taliban ihnen nach dem Massaker angetan hatten, dass zwei von ihnen nicht mehr sprechen konnten.

Doch einige der herzzereißendsten Aufnahmen in der Dokumentation "Unter dem Schleier", so auch von der Hinrichtung im Fußballstadion, stammen nicht von Shah selbst, sondern von einer afghanischen Untergrundorganisation, die ihr bei den Arbeiten half. Tatsächlich wäre Shahs Dokumentation nicht möglich gewesen ohne die Revolutionäre Vereinigung der Frauen Afghanistans (RAWA), einer Untergrundorganisation, deren Mitglieder jeden Tag ihr Leben riskieren, während sie versuchen, den Taliban zu trotzen und deren Brutalität publik zu machen.

RAWA wurde 1977 als Gruppe afghanischer Feministinnen gegründet, die sich für Frauenrechte einsetzten, doch ihr Tätigkeitsfeld erweiterte sich, als die Fundamentalisten an die Macht kamen. Entschlossen, die erschreckenden Praktiken der Taliban aufzuzeigen, begannen Frauen der Gruppe, Videokameras unter ihrer Burqa zu verstecken und die öffentlichen und alltäglichen Exekutionen und Misshandlungen der Taliban zu dokumentieren. Sie schmuggelten auch Journalistinnen wie Shaila Shah und Eve Ensler, Verfasserin der "Vagina-Monologe" ins Land - in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit der Welt auf ihr Anliegen zu lenken. Als Reaktion auf das Verbot der Taliban auf Bildung und Arbeit für Frauen, unterhält RAWA auch heimliche Mädchenschulen in Privathäusern. Auch unterrichtet RAWA Frauen in Handarbeiten aller Art und verkauft deren Erzeugnisse online. In den Flüchtlingslagern Pakistans sorgt RAWA auch für medizinische Versorgung, Hausbau und Bildung für bitterarme Menschen, die vor den Taliban geflüchtet sind.

RAWA, die bekannteste von Afghaninnen geführte Taliban-Opposition, ist eine der größten Feinde der Fundamentalisten geworden. Was ihre Gegner vielleicht am meisten in Rage bringt und womöglich der Schlüssel für ihre Effizienz bedeutet, ist der Umstand, dass diese Bewegung nur aus Frauen besteht, etwa 2.000 in Afghanistan und Pakistan, welche die Verhüllung der Burqa und ihre scheinbare Ohnmacht in einen strategischen Vorteil ummünzen.

Als sie mit RAWA unterwegs war, gewann Shah aus erster Hand einen Eindruck davon, was es heißt, als Frau unter den Taliban zu leben, und sie wurde zu den geheimen Schulen und illegalen Treffen der RAWA mitgenommen. Sie bekam auch Zugang zum Video-Archiv, das nicht nur den Film über die Frauenhinrichtung enthält, sondern auch das Aufhängen dreier Männer im selben Stadion. (Der Wiederaufbau des Fußballstadions war von internationalen Hilfsorganisationen gesponsort worden und wird nun von den Taliban ausschließlich als Hinrichtungsstätte genutzt.)

"Unter dem Schleier" war lange vor den Anschlägen vom 11. September gedreht worden, und laut RAWA-Angaben hat sich die Lage in Afghanistan seitdem noch verschlechtert. Da die Grenzen zu Pakistan geschlossen wurden, ist das afghanische Volk nun in seinem eigenen Land gefangen - es muss die repressive Herrschaft der Taliban ertragen und nun auch mit dem US-Bombenhagel fertig werden. Mittlerweile geht RAWA das Geld aus und kann keine Mittel mehr für Nahrung und Bildung der Millionen Flüchtlinge an der Grenze aufbringen. Die pakistanische Polizei, die oft mit den Taliban sympathisiert, geht regelmäßig gegen RAWA-Mitglieder vor. Und da die Kommunikationswege nach Afghanistan abgeschnitten sind, bringen die RAWA-Mitarbeiterinnen in Pakistan kaum noch in Erfahrung, wie es ihren Freundinnen jenseits der Grenze ergeht.

In einem Telefon-Interview aus Islamabad sprach ein 26 Jahre altes RAWA-Mitglied, die sich nur "Fatima" nennt, über die Arbeit von RAWA in Pakistan und Afghanistan, über ihre Einstellung zum Krieg und zur Nordallianz und ihre "kompromisslose Haltung" zum Fundamentalismus. Mit ihrer siebenjährigen Mitgliedschaft ist Fatima eine Veteranin der Bewegung und Mitglied des politischen Kommittees von RAWA, das versucht, sowohl afghanische Frauen als auch internationale Medien um sich zu scharen.

Was ist Ihre Lebensgeschichte, und was tun Sie für RAWA?

Ich bin aus Kabul. Mit 19 Jahren begann ich, für RAWA zu arbeiten. Seit nunmehr 23 Jahren herrscht Krieg in unserer Heimat. Meine Generation ist mit dem Krieg aufgewachsen, wir haben nur Verbrechen, Finsternis und Leid in unserem Land gesehen. Wir sahen niemals Glück oder Demokratie. Ich lebte in einem dauernden Schockzustand, denn jeden Tag gab es tragische Ereignisse in meiner unmittelbaren Umgebung.

Als ich jung war, beschloss ich, etwas zu unternehmen. Viele junge Mädchen begingen Selbstmord, da sie hilflos und ohne Hoffnung waren. Doch einige, so wie ich, beschlossen zu kämpfen. Wir wollten unseren Mitmenschen helfen - das ist die beste Art, Gerechtigkeit in unser Land zu bringen.

Als ich 20 war, verließ ich Afghanistan. Meine Aufgabe für RAWA bestand darin, nach Pakistan zu kommen und in den Flüchtlingslagern zu arbeiten. Ich musste oft die Grenze überqueren und nach Afghanistan zurückkehren, um Frauendemonstrationen zu organisieren und die Veröffentlichungen von RAWA nach Afghanistan zu bringen. Wir agierten heimlich und ohne Papiere - niemand fragte einen danach, wenn man eine Frau war. Ich trug die Burqa, denn das ist das einzige Visum, dass von Frauen verlangt wird, wenn man nach Afghanistan geht. Wenn ich die Grenze überschreite, kann keiner erkennen, dass ich zu RAWA gehöre.

Warum benutzen Sie das Pseudonym "Fatima"?

Wir benutzen immer unterschiedliche Namen, da wir viele Sicherheitsprobleme haben. Unsere Vorsitzende Mina und ihre Leibwächter wurden 1987 in Pakistan von islamischen Fundamentalisten und vom KGB ermordet. Unsere Mitglieder werden immer angegriffen und verletzt - wir erhalten Morddrohungen in E-Mails, Briefen und am Telefon, wir sollen aufhören, oder sie bringen uns um. Daher arbeiten wir in Afghanistan im Untergrund, und auch in Pakistan agieren wir oft heimlich.

Haben die Taliban Sie bereits persönlich attackiert?

Ich wurde dreimal auf der Straße geschlagen, aus ganz blöden Gründen. Man wird geschlagen, wenn man den Schleier nicht trägt, wenn man nicht in männlicher Begleitung ist, wenn man mit einem männlichen Ladenbesitzer spricht oder wenn man abends noch unterwegs ist. Dauernd hört man Geschrei auf den Straßen, da immer jemand verprügelt wird. Das ist normal.

In Pakistan wurde ich 1999 bei einer Demo der RAWA verletzt. Pakistan erkennt die Taliban offiziell an. Wenn wir unsere Anti-Taliban-Sprüche loslassen, schreitet die pakistanische Polizei ein. Während dieser Demo wollten wir zum Gebäude der UNO gehen, doch die Polizei wollte uns stoppen. Bei einem Handgemenge schlugen sie mich und brachen meine Hand.

Was ist RAWAs wichtigste Tätigkeit in Afghanistan?

Wir unterrichten Hunderte von Frauen und Kindern in Untergrundschulen in Afghanistan. Kindern bringen wir Mathematik, Physk, Chemie, Dari (afghanisches Persisch) Sozialkunde und Afghanische Geschichte bei. Frauen unterrichten wir die zwei Hauptfächer Dari und Mathematik. Wenn unsere Frauen in den Laden gehen, wissen sie oft nicht, was sie zahlen und wieviel sie zurückbekommen sollen, denn sie hatten keinerlei Rechenunterricht.

Wir bringen auch Videokameras ins Land, um die Verbrechen der Taliban aufzuzeigen. Das ist eine gefährliche Arbeit. Wir filmten die Hinrichtung der Frauen, die Sie in "Unter dem Schleier" gesehen haben. Wir filmten auch Erhängungen in Kabul und einigen anderen Städten, wir machten Aufnahmen von Afghanen, denen wegen Diebstahls die Hand abgehackt wurde oder die Kehle aufgeschlitzt wurde. Die Fotos sind auf unserer Webseite.

Wir machen ein Loch durch die Burqa und filmen da durch. Deshalb ist die Qualität unserer Filme sehr schlecht, es ist sehr schwierig. Niemand ist bisher erwischt worden, aber wenn man erwischt werden sollte, droht als einzige Strafe die Hinrichtung, vor allem wenn die Taliban wissen, dass man zu RAWA gehört.

Was machen Sie in den pakistanischen Flüchtlingslagern?

Wir unterhalten Mädchenschulen in den Lagern, doch in einigen haben wir Schwierigkeiten wegen des Einflusses der Fundamentalisten. Wir haben auch Handarbeitsprojekte für Frauen, wir halten Hühnerfarmen, einen Marmeladenbetrieb und Teppichknüpfereien. Wir haben auch mobile Ärzteteams, die für ein oder zwei Tage in die Lager kommen, um kostenlose Medizin abzugeben. Wir hatten das so genannte "Malalai-Krankenhaus", das aber wegen akuter Finanznot geschlossen werden musste. Eines unserer dringendsten Ziele ist es, das Krankenhaus wieder zu öffnen.

Was fühlen Sie angesichts des Anschlags auf Amerika?

Uns tun die Opfer dieses Terroranschlags sehr leid. Wir wollen ihnen unsere tief empfundene Solidarität bekunden. Wir können deren Leiden nachvollziehen, zumal wir selbst seit 23 Jahren unter Terror zu leiden haben. Wir sind auch Ofper dieser Tragödie.

Andererseits haben wir leider die USA viele viele Male vor dieser Gefahr gewarnt, auch die anderen Länder, die diese fundamentalistischen Gruppen unterstützt hatten. Der Westen hat während des kalten Krieges diese Leute unterstützt, sie haben während der sowjetischen Besetzung Afghanistans Osama Bin Laden geholfen. Fundamentalismus ist gleich Terrorismus, es ist gleichbedeutend mit Verbrechen. Wir haben gesagt, dass diese Saat des Bösen nicht nur in Afghanistan aufgeht, sondern sich über die ganze Welt verbreitet.

Heute können wir dies mit eigenen Augen verfolgen. Wir hatten sie gewarnt, doch sie haben nie auf unsere Schreie und auf unsere Stimme gehört.

Wie betrifft die aktuelle Krise Ihre Arbeit bei RAWA?

Tausende von Familien flüchten aus Afghanistan und lassen alles zurück, da sie Angst vor dem Krieg haben. Tausende von anderen, die in Afghanistan leben, haben keine Möglichkeit, hierher zu kommen. Und nun sind auch die Grenzen geschlossen worden. Das bedeutet, unser Volk muss in den Flammen des Krieges brennen und alle Türen sind zu.

In Flüchtlingslagern ist es wirklich schwer zu arbeiten, vor allem weil gerade unzählige Flüchtlinge angekommen sind. Sie stehen unter Schock und haben nichts außer sich selbst und ihre Kleider am Leib. Gestern traf ich eine Familie, die RAWA um Hilfe bat, sie weinten und sagten, dass sie über die Berge geflüchtet sind, da die Grenzübergänge dicht sind. Ihr Kind viel einen Abgrund hinunter und starb, aber sie mussten weiter ziehen.

Unser Volk flieht aus Afghanistan, weil es Angst vor Töten, Mißhandlungen und Folter hat, aber sie werden in den Flüchtlingslagern sterben, da keine Lebensmittel, Arbeit und medizinische Versorgung da sind. Auch hier ist die Lage also nicht gerade rosig. Wir haben eine Krise in den Lagern. Tausende baten uns um Hilfe, doch wir wissen nicht, wie wir noch helfen können. Sie möchten ihre Kinder in unsere Waisenhäuser und Schulen stecken, sie wollen Unterkunft und Medizin - sie brauchen alles mögliche, aber wir haben kein Geld.

Auch sorgen wir uns um unsere Mitglieder in Afghanistan, um deren Leben.

Fürchten Sie sich vor dem Krieg mit den USA?

Wir wollen dem amerikanischen Volk die Botschaft überbringen, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen dem afghanischen Volk und der kriminellen Regierung Afghanistan. Zwischen beiden steht ein Fluss aus Blut.

Unterstützen Sie die Nordallianz?

Wir verurteilen die Zusammenarbeit der USA mit der Nordallianz. Diese Leute sind ein weiterer Alptraum für unser Land - die Nordallianz sind Taliban light.

Die Leute von der Nordallianz sind Heuchler: Sie sagen, sie sind für Demokratie und Menschenrechte, aber wir vergessen nicht, was wir mit denen erlebt haben. Sogar siebzigjährige Omas wurden während ihrer Herrschaft vergewaltigt, Tausende von Mädchen wurden missbraucht, Tausende wurden getötet und gequält. Sie sind die erste Regierung, die die Tragödie für uns Frauen verursacht hat.

Welche Regierung befürworten Sie denn?

Wir sind bereit, den früheren König zu unterstützen. Das heißt nicht, dass er die ideale Figur für uns ist. Aber wir ziehen ihn den Fundamentalisten allemal vor. Die einzige Bedingung, die wir an ihn stellen würden, ist, nicht mit der Nordallianz zu kooperieren.

Was braucht RAWA gerade jetzt am dringendsten?

Unsere finanzielle Lage ist äußerst desolat. Wir brauchen alles, was wir bekommen können - für unser mobiles Ärzteteam, für Medizin, für Schulen. Für viele ist eine Mark nichts, aber uns bedeutet es viel. Mit leeren Händen zu arbeiten, ist uns leider nicht möglich.

Möchten Sie einmal nach Afghanistan zurückkehren?

Ich vermisse Afghanistan sehr, es ist mein Land. Ich liebe meine Heimatstadt und mein Land sehr. Ich bin hier nur ein Flüchtling. Sobald Frieden in Afghanistan einkehrt, werden wir nie in ein anderes Land gehen - wir werden zurück nach Afghanistan gehen und beim Wiederaufbau helfen und hoffentlich noch ein paar schöne Tage erleben.



Aus: http://www.salon.com/mwt/feature/2001/10/02/fatima/index.html



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