Ein Massaker, das von der Weltöffentlichkeit unbemerkt blieb
International Herald Tribune, Paris, Samstag, 7. August 1999
Von Rupert C. Colville
NICOSIA Genau vor einem Jahr wurden an diesem Wochenende während drei oder vier Tagen zwischen 5'000 und 8'000 Menschen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit ermordet. Die meisten unter ihnen waren Männer.
Einige wurden auf der Strasse erschossen. Viele wurden in ihren eigenen Häusern getötet, nachdem Gebiete der Stadt, die vorzugsweise von ihrer ethnischen Gruppe bewohnt waren, hermetisch abgeriegelt und systematisch durchsucht worden waren. Einige wurden buchstäblich zu Tode „gekocht“ oder erstickten, nachdem sie in Metallcontainer gesteckt wurden, die nachher verschlossen unter der heissen Augustsonne zurückgelassen wurden. In zumindest einem Spital wurden mindestens 30 Patienten erschossen, als sie hilflos in ihren Betten lagen.
Die Leichen vieler Opfer wurden als eine drastische Warnung an die verbleibenden Bewohner der Stadt auf den Strassen oder in ihren Häusern liegen gelassen. Mit Grauen mussten Zeugen mit ansehen, wie Hunde über die Leichen herfielen, doch sie wurden über Lautsprecher und das Radio instruiert, diese weder wegzuschaffen noch zu begraben.
Erinnern Sie sich an dieses Massaker? Wissen Sie, wo es sich zutrug? Wer wurde durch wen getötet und warum? Wenn Ihnen dazu gar nichts einfällt, so ist dies kein Grund sich schuldig zu fühlen, denn Sie gehören zur grossen Mehrheit. Es geschah weder im Kosovo noch in Bosnien. Es passierte in Afghanistan, welches in vielerlei Hinsicht das Kosovo der achtziger Jahre war, jedoch heute nicht mehr länger von Bedeutung zu sein scheint.
Für eine Weile wenigstens sah es so aus, als ob das von den Taliban in der in Nordafghanistan gelegenen Stadt Mazar-i-Sharif verübte Massaker wirklich durch die Dielen der Geschichte rutschen könnte. Wichtigere Dinge hatten die Aufmerksamkeit der Medien auf sich gezogen, wie etwa die Monica Lewinsky-Enthüllungen, Fussballspiele, die Unruhen in Indonesien. Am Ende, jedenfalls, wurde es bemerkt, doch nur als eine kleine Fussnote der Geschichte.
Der erste Bericht einer internationalen Organisation war eine Pressemitteilung von Amnesty International am 3. September 1998. Eine Woche später wandte sich der UN-Flüchtlingskommissar an die Öffentlichkeit und liess verlauten, dass basierend auf absolut in Einklang stehenden Aussagen von Flüchtlingen, die Pakistan erreichten, glaubwürdig sei, dass mehrere tausend Menschen massakriert worden sind. Am 1. November veröffentlichte Human Rights Watch einen detaillierten Bericht, der sich auf eine Untersuchung in Pakistan stützte. Kurz darauf stellte eine UN-Menschenrechtskommission ebenfalls einen Bericht über das Massaker zusammen. Keiner dieser Berichte erregte grosses Aufsehen indessen, trotz der schockierenden anschaulichen Details. Ein Grund dafür war, dass es keine grausamen Bilder von Leichenteilen gab, und nicht eine der grossen TV-Stationen bemühte sich darum, Flüchtlinge oder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in Pakistan zu interviewen. Doch zwischen März und Juni dieses Jahres wurden hunderte von TV-Stories in genau dieser Art mit den Flüchtlingen in Albanien und Mazedonien gesendet, lange bevor die NATO-Streitkräfte es den Kamera-Crews ermöglichten, im Kosovo vor Ort zu drehen.
In der Tat hätten Bilder von Mazar wohl organisiert werden können, wenn der Wille dazu vorhanden gewesen wäre: Bei mindestens zwei Gelegenheiten benutzten Leute versteckte Kameras, um die Situation der Frauen im von den Taliban besetzten Afghanistan zu dokumentieren. Bei den Taliban ist das Filmen von lebenden Frauen tatsächlich weit umstrittener als etwa Leichen zu filmen.
Einige wenige Journalisten brachten den Enthusiasmus auf und einige gute Zeitungsartikel wurden da und dort veröffentlicht. Im grossen Ganzen jedoch wurde das Mazar-Massaker durch die internationalen Medien zur Seite geschoben, hauptsächlich durch die einflussreiche amerikanische Presse.
Die New York Times reduzierte die Greueltaten auf einige Abschnitte in einer Geschichte über den Iran am 16. September. Ein Reporter in Islamabad bot Newsweek einen Artikel mit 1500 Worten an, der schliesslich auf 150 Wörter reduziert worden ist.
Die einzigen grösseren US-Printmedien, die reagierten waren die Los Angeles Times am 18. September und die Washington Post, welche am 30. November eine Story publizierte, gefolgt von einem Editorial anfangs Dezember (beides wurde von der International Herald Tribune übernommen). Diese Veröffentlichungen waren zu isoliert und zu weit auseinander, um öffentliche Empörung wegen des Massakers auszulösen, jedoch, vergleichen Sie diese Berichterstattung mit dem Kosovo. Am 26. September 1998, während die wenigen, die über das Mazar-Massaker Bescheid wussten noch darum kämpften, eine breitere Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, wurden etwa 20 Menschen im Dorf Gornje Obrinje in Kosovo getötet. Am 15. Januar 1999 wurden weitere 45 ethnische Albaner in Racak ermordet. Bei beiden Ereignissen strömten die TV-Crews herein, die Schlagzeilen überschlugen sich und die NATO begann zu reagieren.
Das vielleicht am besten entsprechende Gegenstück zu Mazar ist das Massaker an den bosnischen Muslims, welches in der kleinen Stadt Srebrenica stattfand, nachdem es den Serben im Juli 1995 zugefallen war. Einmal mehr gab es keine Bilder, doch als die Überlebenden das nahegelegene Tuzla erreichten, warteten die meisten der weltweit vertretenen Medienvertreter, um über den Horror zu berichten.
Zweimal während der nächsten drei Monate begab sich ein junger Journalist namens David Rohde mit dem Christian Science Monitor auf Schleichwegen nach Srebrenica und kehrte mit Beweisen über dieses Massaker zurück; ein Massaker, von dem jeder wusste, dass es dort stattgefunden hatte, doch bisher keiner dazu fähig gewesen war, es zu beweisen. Herr Rohde gewann den Pulitzer Preis für seinen Anteil, den er geleistet hatte, um das Schicksal von etwa 7000 Männern, die in Srebrenica ermordet worden waren, aufzudecken. Dieses Massaker ist ein Schlüsselelement in den Kriegsverbrecher-Anklageschriften gegen General Ratko Mladic und Radovan Karadzic nebst anderen.
Eine ähnliche Zahl von Männern wurden letzten August wegen genau der selben Motive in Mazar-i-Sharif ermordet. Doch wird bestimmt keiner einen Pulitzer Preis für die Enthüllung des Massakers in Mazar gewinnen, weil über Monate keiner mehr dorthin gereist ist, mit Ausnahme von BBC’s Korrespondent in Kabul, William Reeve, der Mazar vier Monate später besucht hat.
Herr Reeve bemühte sich nicht, das Massaker zu untersuchen, indem er Flüchtlinge interviewte oder Flüchtlingshelfer, die auf der anderen Seite der Grenze in Pakistan Beweismaterial sammelten. Seine schärfste Kritik an den Taliban formulierte er dahingehend, dass "ihre Taktik als brutal bezeichnet werden könnte".
Afghanistan ist auf keinen Fall von der Medien-Landkarte insgesamt verschwunden. Osama bin Laden zieht Cruise Missiles ebenso wie massenhaft Berichterstattung in allen Medien an, weil er angeblich der Drahtzieher der Anschläge auf die US Botschaften sein soll. Und wenn die Taliban den Frauen befehlen, keine weissen Strümpfe mehr zu tragen oder Schuhe verbieten, deren Absätze klappern, wird darüber weltweit berichtet und die Frauenrechtsorganisationen stehen Gewehr bei Fuss. Doch wenn die Taliban 5000 Männer töten, in erster Linie wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit und in zweiter Linie wegen ihres Geschlechtes, dann scheint kein Hahn danach zu krähen.
Es steht ausser Frage, dass das Mazar-Massaker eine authentische und spektakuläre Story war. Doch während etwa 3000 Journalisten auf dem Höhepunkt des Kosovo Konfliktes anwesend waren, machte sich nur eine Hand voll von internationalen Journalisten die Mühe, die Flüchtlinge aus Mazar in Pakistan zu befragen.
Ein grosser Teil der internationalen Unterstützung für die Kosovo-Albaner war eine direkte Folge der Medien Berichterstattung über die Flüchtlinge und die verübten Greueltaten. Was wird das Schicksal der zehntausende von ethnischen Hazara Kindern sein, die ohne ihre Väter und Brüder im verwüsteten und verarmten Afghanistan zurückbleiben, wo es verwitweten Müttern nicht erlaubt ist zu arbeiten?
Der Autor war ein UN-Sprecher in Afghanistan und im Kosovo. Die in diesem Artikel ausgedrückten Meinungen sind ausdrücklich die des Autors und stehen in keiner Weise für die Sicht der Vereinten Nationen. Er schrieb diesen Beitrag für die International Herald Tribune.