Die Zeit , 42/2001 |
Für das Recht, aus dem Fenster zu schauen
Wie afghanische Frauen zivilen Widerstand gegen die Taliban leisten
Von Cheryl Benard und Edit Schlaffer
Tameena sitzt in Washington vor dem Fernsehgerät und ist Zeugin, wie die US-Militärmaschine in Bewegung gerät. Gegen ihre Erzfeinde, die Taliban. Doch erleichtert kann die 23-jährige Frauenrechtlerin aus Afghanistan nicht sein. An ihre eigene Flucht als Zehnjährige erinnert sie sich noch zu gut. Zu Hause kann sie niemanden telefonisch erreichen, und vor den unscharfen Fernsehbildern wird ihr schwindlig.
Tameena gehört zum harten Kern der Untergrundorganisation RAWA (Revolutionary Association of the Women of Afghanistan); zum Kader von rund 2000 Frauen, die in Afghanistan und im benachbarten Pakistan ausschließlich für die Organisation arbeiten. Die Frauen führen ein gefährliches Leben, denn in den Augen der Taliban kämpfen sie für radikale Ziele: das Recht kleiner Mädchen, Lesen und Schreiben zu lernen. Das Recht einer Frau, auf die Straße zu gehen, aus dem Fenster zu schauen. Einen Arzt zu besuchen. Einen Beruf auszuüben.
Unter dem Taliban-Regime zählen Frauen nichts. Nur fünf Prozent der weiblichen Bevölkerung können lesen (Männer: 28 Prozent). Die Müttersterblichkeit bei Geburten ist die höchste der Welt. Verschleiert zu sein genügt nicht, die Taliban-Bestimmung verlangt, "dass eine Frau in der Öffentlichkeit keine menschliche Form aufweist".
Schon vor Monaten war Tameena, die tatsächlich einen anderen Namen trägt, zum Vortrag an der University of Maryland eingeladen worden. Was einem bescheidenen Fundraising dienen sollte, verwandelte sich nach dem 11. September in ein regelrechtes Medienspektakel, Larry King lud die junge Afghanin in seine CNN-Talkshow ein. Tameena ist geduldig. Sie hofft, dass man ihr zuhört.
Man solle, warnt sie überall, in Afghanistan nicht schon wieder ein großes Übel mit einem vermeintlich geringeren bekämpfen. Wenn die Fundamentalisten aus der Nordallianz die Stelle der Taliban einnähmen, dann gebe es in fünf Jahren die nächste Krise. Vor allem dürften die Frauen nicht vergessen werden. Nach den vielen Kriegsjahren stellen sie die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung. "Verteilen die männlichen Eliten und Stammesführer wieder alle Macht unter sich, dann wird das Land keinen Wiederaufbau erleben."
Tameena reist auch in den USA unter extremen Sicherheitsvorkehrungen. 1987 wurde die Gründerin der Gruppe RAWA in Afghanistan ermordet, auch ihre beiden engsten Mitarbeiterinnen. Mädchenschulen wurden gesprengt. Lehrerinnen, die heimlich in Wohnungen unterrichten, droht die Verhaftung. Es gab Säureattentate. Doch auf makabre Weise macht es die Unterdrückung den Widerstandskämpferinnen sogar leichter, im Untergrund zu arbeiten: Hinter dem weit flatternden, alles verhüllenden Umhang, der Burka, lassen sich Unterrichtsmaterialien, Pakete und Bücher unsichtbar transportieren. Selbst Videokameras. So kamen viele Beweise für die Grausamkeiten der Taliban ans Licht.
Wie hält man die ständige Lebensgefahr, die dauernden Anfeindungen aus? Tameena wehrt solche Fragen ab: "Ich empfinde mich als privilegiert. Ich hatte das enorme Glück, eine Schule besuchen zu dürfen." Die RAWA-Kämpferin wuchs in Kabul auf, als Tochter eines Lehrerehepaars. Ende der achtziger Jahre floh die Familie nach Pakistan.
Tameena kam in die Obhut von RAWA-Lehrerinnen, die nicht nur über Geografie und Mathematik sprachen, "sondern auch über Menschenrechte und darüber, was wir als Frauen alles erreichen können". Das waren neue, aufregende Gedanken: "Wir waren doch alle davon überzeugt, viel weniger wert zu sein als unsere Brüder."
Am mutigsten seien jene RAWA-Frauen, die aus den Alphabetisierungskursen im Landesinneren von Afghanistan hervorgehen. Sie werden Lehrerinnen oder arbeiten als klandestine Reporterinnen, die ihre Meldungen und Bilder auf der RAWA-Web-Seite veröffentlichen: Interviews mit Frauen, deren Männer oder Söhne von den Taliban entführt oder getötet wurden; oder mit Kindern, deren Eltern vor ihren Augen umgebracht wurden. RAWA unterstützt auch soziale Projekte: eine Hühnerfarm, eine Fischzucht, eine Imkerei. Ihre Schützlinge kochen Marmelade, legen Gurken ein, betreiben eine Kreidefabrik. Das alles sind Arbeitsplätze für afghanische Witwen, die sonst betteln müssten oder mitsamt ihren Kindern verhungern. So haben sich ausgerechnet die Schwächsten, die Frauen, zur einzigen zivilen Widerstandsorganisation in Afghanistan zusammengetan.
In ihren Anfängen 1977, erzählt Tameena, versammelte RAWA eher gebildete Frauen der modernen städtischen Mittelschicht. Diese Gründergeneration ist noch immer aktiv, aber die Gruppe hat sich über die Jahre verändert: Der Anteil an Witwen, an jungen und armen Frauen aus den Flüchtlingslagern ist enorm gestiegen. Und das Internet hat die Arbeit seit 1997 wirksamer gemacht. "Wir wussten nichts darüber, aber wir haben uns einfach selbst beigebracht, eine Web-Seite zu gestalten", erinnert sich Tameena. Der Erfolg war enorm. Nachdem die amerikanische Talkshow-Queen Oprah Winfrey voriges Jahr darüber berichtete, wie RAWA über Taliban-Exzesse aufklärt, und zum Spenden aufrief, klickten 300 000 Besucher rawa.org an. Wenig später kamen die ersten Videokameras in Peschawar an, mit Grüßen aus Texas, Nebraska, New Jersey. Nun hoffen die RAWA-Frauen auf eine ähnliche Welle der Solidarität für ihr aktuelles Projekt: Sie wollen im pakistanischen Quetta ein Krankenhaus eröffnen und brauchen Geld, Ausrüstung, Medikamente.
Tameena ist von der Zustimmung, die RAWA erfährt, längst nicht mehr überrascht. Den Taliban ist gelungen, sagt sie, was weder König noch Kommunisten geschafft haben: das Volk zu modernisieren. "Mittlerweile befürworten die meisten Afghanen einen säkularen Staat, eine Trennung zwischen Religion und Politik."
Dann erzählt sie vom Großvater einer Freundin, einem fast 80-Jährigen, der von einem jungen Taliban-Soldaten geschlagen wurde, weil er zur Gebetszeit auf dem Heimweg war statt in der Moschee. Der strenggläubige Mann kam nach dem Vorfall heim und erklärte wütend seine Absicht, nun seinen Bart abzurasieren und sein Gesicht in Wein zu waschen. "Die Menschen in Afghanistan", sagt Tameena, "wollen keine Religion, die ihnen mit Schlägen und Beleidigungen aufgezwungen wird."