BBC Talking Point: Forum , 18. Oktober 2001

Frauen und die Taliban



Sahar Saba ist Mitglied von RAWA, einer Gruppe, die fuer die Menschenrechte der Frauen und fuer Gerechtigkeit in Afghanistan kaempft.

RAWA’s Sahar Seba (das ist ihr Deckname) beantwortete Ihre Fragen in einem Live-Forum.

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Die im Jahre 1977 gegruendete Revolutionaere Vereinigung der Frauen Afghanistans operiert von Pakistan aus, RAWA-Mitglieder begeben sich bei der Durchfuehrung ihrer Gesundheits- und Erziehungsprogramme oft in Lebensgefahr.

RAWA-Mitglieder fungieren auch als Zeugen und haben erschreckende Video-Aufnahmen von der Unterdrueckung und den Gewalttaetigkeiten, denen Frauen unter Afghanistans Taliban-Regime ausgesetzt sind, gemacht.


Transkript:


Newshost:

Rebekah, New Zealand: How is the bombing in Afghanistan affecting women in Afghanistan?


Sahar Saba:

Afghanistan is a country which has been at war for the last 20 years - of course women again are the first victims. Thousands of women have been forced to leave Afghanistan again with their children. They have been a lot of mental concern for women because the Taleban have announced this new law to force men to go to the warfront. Also because of the lack of food, lack of access to healthcare - this is a big issue for thousands of women.


Newshost:

Rebekah, Neuseeland: Wie wirkt sich die Bombardierung Afghanistans auf die Frauen in Afghanistan aus?


Sahar Saba:

Afghanistan ist ein Land, in dem seit 20 Jahren Krieg herrscht - natuerlich sind Frauen wieder einmal die ersten Opfer. Tausende von Frauen wurden gezwungen, mit ihren Kindern aus Afghanistan zu fliehen. Eine grosse Sorge der Frauen ist nun, dass die Taliban dieses neue Gesetz in Kraft gesetzt haben, das Maenner an die Kriegsfront zwingt. Ausserdem stellen der Mangel and Nahrungsmitteln und die unzureichende aerztliche Versorgung grosse Probleme fuer die Frauen dar.

Die Grenzen auf beiden Seiten, mit dem Iran und mit Pakistan, sind abgeriegelt, Frauen und Kinder haben grosse Angst, dass sie nicht ueber die Berge nach Pakistan gelangen koennen. Also haben diese Bombardierungen wirtschaftlich und gesellschaftlich sehr schlimme Konsequenzen fuer unser ganzes Volk, insbesonder fuer die Frauen, wie wir in den letzten 20 Jahren gesehen haben. Wieder einmal sind die Frauen die Opfer wegen dieses Krieges und das ist die Situation im Krieg. Sie werden zu Opfern, sie haben keine Wahl.


Newshost:

Avinash Waghray, Neu Delhi, Indien: Glauben Sie, dass die Luftangriffe auf Afghanistan gerechtfertigt sind?


Sahar Saba:

Keineswegs, weil das keine Loesung ist. Damit kann der echte Terrorismus nicht ausgemerzt werden, und, wie wir ganz klar gesehen haben, wird unser Volk wiederum zum Opfer. Gerade jetzt schweben die Gefahr des Hungers, sogar die des Verhungerns, der Bombardierungen und weitere Gefahren ueber unserem Volk, niemand kann fuer ihre Leben garantieren. Wir haben Berichte aus Kabul erhalten ­ erst gestern haben wir mit einer unserer Kolleginnen gesprochen - Bomben wurden ganz in der Naehe von zivilen Wohngegenden abgeworfen. Das kann fuer Afghanistan keine Loesung sein. Zweitens: niemand weiss, welche Resultate diese Angrife haben werden. Wer wird an die Stelle der Taliban treten, wenn sie vertrieben worden sind? Das ist die groesste Sorge aller Menschen in Afghanistan.


Newshost:

Manoj Mathew, Jabalpur, Indien: Helfen Euch die Maenner in Afghanistan in Eurem Kampf gegen die Unterdrueckung der Frauen Eures Landes?


Sahar Saba:

Wir haben Glueck, es gibt in Afghanistan und auch in Pakistan viele Maenner, die uns sehr unterstuetzen. In diesen Gesellschaften ist es aber sehr schwierig, ohne die Hilfe der Maenner zu operieren. Deswegen versuchen wir natuerlich, noch mehr Hilfe zu bekommen. Darum glauben wir auch, dass die Fundamentalisten, die Extremisten, so ganz aners sind als die "normalen" Leute - unser Feind ist der Fundamentalismus, und nicht die Maenner in Afghanistan.


Newshost:

Michael Gotianum, Manila, Phillippinen: Wenn Frauen nicht arbeiten gehen duerfen, was passiert dann mit Witwen oder alleinerziehenden Muettern , die keine engen Verwandten haben?


Sahar Saba:

Hunderten und Tausenden solcher Frauen bleibt keine andere Wahl als zu betteln, sich zu prostituieren oder Selbstmord zu begehen. So stellt sich die Situation dar, das ist die Tragoedie der Frauen in Afghanistan. Ungluecklicherweise ist RAWA die einzige aktive Organistaion in Afghanistan, und wegen unserer grossen finanziellen Probleme koennen wir nicht mehr tun als wir jetzt tun. Viele dieser Frauen haben sich umgebracht, und die Selbstmordrate steigt taeglich. Ausserdem haben wir die psychologischen Probleme - mehr als 95 Prozent der Frauen in Afghanistan haben Probleme psychologischer Natur.


Newshost:

Roushan Aziz, Dhaka, Bangladesh: Wie fuehrt Ihr Eure Erziehungs- und Bildungsprogramme durch, wo den afghanischen Frauen doch der Schulbesuch verboten ist?


Sahar Saba:

Es ist unglaublich schwierig, innerhalb einer Gesellschaft wie der Afghanistans zu arbeiten, aber wir haben Programme, die komplett im Untergrund abgehalten werden. Wir unsere Aktivitaeten immer vor den Taliban geheimgehalten, wo sie stattfinden, und zu welcher Zeit usw. Aber wir sind von den Taliban jederzeit auf alles gefasst, das heisst nicht, dass wir keine Probleme haben. Wir arbeiten und riskieren unser Leben dabei. Das machen wir nur, weil wir wissen, wie wichtig es ist, unter einem so brutalen Regime Bildung weiterzugeben.


Newshost:

Balaram, Boston, USA: Warum hat es in der moslemischen Welt keinen Aufschrei darueber gegeben, wie die Frauen unter der Herrschaft der Taliban leiden muessen?


Sahar Saba:

Ich glaube, dass Afghanistan bis zum 11. September ungluecklicherweise eine vergessene Tragoedie war, und zwar nicht nur in den moslemischen Laendern, sondern weltweit. Aber auf einmal ist Afghanistan zum Zentrum des oeffentlichen Interesses und der Medien geworden, und das geschieht nicht aus Fuersorge fuer das Volk Afghanistans, und nicht aus Fuersorge fuer die Frauen Afghanistans. Jeder weiss, warum das jetzt hier in Afghanistan geschieht.

Sogar in moslemischen Staaten gab es Empoerung , aber nicht genug in westlichen Staaten und anderen Laendern. Es gibt dafuer Gruende, beispielsweise Iran und Saudi-Arabien sind ja ebenfalls Laender , in denen fundamentalistische Regimes an der Macht sind, die ihr eigenes Volk unterdruecken, und das Volk hat kein Recht, seine Stimme gegen die eigene Regierung zu erheben, geschweige denn, gegen die Regierung anderer Laender zu protestieren.


Newshost:

Alice Dunkerley, Spanien: Inwiefern war das Leben vor den Taliban anders? Koennen Sie sich vorstellen, dass die Frauen jemals gleichberechtigt sind - nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Laendern wie Pakistan?


Sahar Saba:

Wir koennen nicht behaupten,dass Frauen in Afghanistan oder sogar in Pakistan volle Menschenrechte hatten, aber wir sagen koennen feststellen, dass die Situation der Frauen heute ganz bestimmt nicht mit der Situation der Frauen von vor 30 Jahren vergleichbar ist. Vor dreissig Jahren hatten wir ein Land - Frauen hatten zumindest Rechte - Frauen waren in der Regierung ­ mehr als 70 % der Lehrer waren Frauen - Jungen und Maedchen haben zusammen gelernt und studiert. Wir hatten Rechte, und wir wurden als menschliche Wesen anerkannt. Aber was unter den Taliban geschehen ist, was unter der Northern Alliance geschah, unter all diesen Parteien, da wurde das Rad der Geschichte um 100 Jahre zurueckgedreht. Das ist unsere Tragik, dass wir nicht vorwaerts gehen, sondern rueckwaerts.


Newshost:

Cristian Lillo, Temuco, Chile: Werden die Frauen von den Northern Alliance besser behandelt als unter den Taliban?


Sahar Saba:

Nein, ungluecklicherweise sind beide Gruppierungen Fundamentalisten - sie haben dieselbe Mentalitaet, dieselbe Ideologie und wir wissen das aus der Erfahrung heraus, die wir waehrend ihrer Herrschaft gemacht haben. Diese vier dunkelsten Jahre in unserer Geschichte werden wir nie vergessen koennen, in vielerlei Hinsicht war das schlimmer als die Taliban-Herrschaft. Sie haben junge Maedchen verschleppt, vergewaltigt, sogar 70-jaehrige Grossmuetter. Wie koennen wir da sagen, dass sie besser sind? Nein, die sind alle gleich schlimm - sie sind Fundamentalisten, und darum sollten beide Seiten vernichtet werden.


Newshost:

Ajit Matthew, Bangalore, Indien: Glauben Sie, dass die Frauen nach der Beseitigung der Taliban-Herrschaft gleichberechtigt behandelt werden?


Sahar Saba:

Wir koennen nichts voraussehen, aber das haengt wohl eher davon ab, wer an die Stelle der Taliban tritt und was fuer eine Regierung wir in der Zukunft haben werden. Natuerlich hoffen wir auf eine Regierung , die anders ist als diese Fundamentalisten, eine Regierung, wo Frauen zumindest als Mitglieder der Gesellschaft anerkannt werden, wo Frauen zumindest das Recht auf Arbeit haben, um etwas zu erreichen, nicht nur fuer sich selber, sondern auch fuer ihre Kinder. Aber wir koennen es nicht voraussagen.


Newshost:

Asdis Bergporsdottir, Reykjavik, Island: Im Moment wird viel ueber die zukuenftige Regierung Afghanistans gesprochen, und zwar ueber eine Versammlung afghanischer Fuehrer und Menschen, um die Zukunft zu planen. Hat sich jemand an RAWA gewandt mit einem Angebot, Teil solch einer Versammlung zu sein?


Sahar Saba:

Wir glauben, dass RAWA ein Teil der zukuenftigen Regierung sein muss; nicht, weil wir Macht anstreben, sondern damit die Haelfte der Bevoelkerung Afghanistans repraesentiert wird. Wir halten das fuer unser Recht, weil wir waehrend der vergangenen 24 Jahre dafuer gearbeitet und Opfer gebracht haben. Wir glauben, dass es unsere Ambitionen ­ die Ziele, die Frauenrechte, Demokratie und die Trennung von Staat und Kirche, sind, die unser Volk und unsere Frauen wollen. Daher hoffen wir, dass es im Namen der afghanischen Frauen fuer RAWA eine Platz in der Regierung gibt.


Newshost:

Hat sich schon jemand darum beworben, an der Versammlung teilzunehmen?


Sahar Saba:

Wir haben einige Vorschlaege von unseren Freunden, und wir erwarten - momentan ist das noch nicht offiziell ­ dass wir bald derartige Angebote bekommen werden.


Newshost:

John Wachman, Chicago , USA: Koennen Ihre Ziele bezueglich der Frauenrechte unter einer wie auch immer gearteten moslemischen Regierung erreicht werden?


Sahar Saba:

Das Problem sind nicht die islamischen Regierungen, das Problem ist der Fundamentalismus. Da wuerde ich wieder das Beispiel Afghanistan anfuehren - Afghanistan war vor 30 Jahren ein moslemisches Land. Aber es war ein anderes Land. Zumindest war es ein normales Land, aber heute ist es das nicht. Wir glauben nicht, dass der Islam oder andere Religionen ein Thema sind. Das Thema ist, wie die Menschen im Namen des Islam oder der Religion missgeleitet werden, das ist das Problem.


Newshost:

Judy C., Seattle, USA: Angenommen, die Taliban wuerden sogar aus der Regierung entfernt werden wie kann man dann das Denken der Maenner reformieren: Sie hatten absolute Autoritaet, Frauen zu misshandeln und sogar zu toeten. Wie koennte man sie nur dazu bringen, damit aufzuhoeren?


Sahar Saba:

Was die Taliban und die Fundamentalisten betrifft, weiss jeder, wer sie waren und wie sie an die Macht kamen. Also ergibt sich nun ein Thema zwischen denjenigen, die sie an die Macht gebracht haben, und den Taliban selber - das hat mit unserem Volk nichts zu tun. Daher ist es besser, fuer das Problem zu einer Loesung zu finden, und wir glauben, dass jede Art von Unterstuetzung fuer beide Seiten gestoppt werden sollte (finanzieller, militaerischer und politischer Art), das waere die beste Loesung. Auch sollten UN-Friedenstruppen in Afghanistan intervenieren, das wuerde helfen.


Newshost:

Anne Tuite, Antwerpen, Belgien: Wollen die Frauen in Afghanistan den Wandel, oder gibt es viele Frauen innerhalb Afghanistans, die die Unterdrueckung der Frauen bejahen?


Sahar Saba:

Wie koennte man ein so brutales Regime bejahen - rechtlos sein, nicht als menschliches Wesen betrachtet werden. Ich kann sagen, dass die Merhheit der Frauen in Afghanistan von den Fundamentalisten genug haben, von den Greueltaten, von den Verbrechen, die gegen sie begangen wurden.


Newshost:

Liza Marie Winder, USA: Gibt es Fortschritte dabei, die jungen Frauen des Landes darueber unterrichtet zu halten, was in der Welt geschieht, z.B. ueber die Tatsache, dass die Art, wie die Frauen in Afghanistan behandelt werden, nicht die Art ist, wie Frauen anderswo in der Welt behandelt werden, und dass es nicht immer so war wie jetzt?


Sahar Saba:

Das ist eine unserer wichtigsten Aktivitaeten, ganz speziell junge Maedchen zu bilden. Die Prioritaet fuer uns ist die junge Generation - besonders die Maedchen. Darum sind in Afghanistan all diese zuhause agbehaltenen Klassen, die Lese- und Rechtschreibkurse, fuer diese Frauen und sie sollen auch Bewusstsein wecken, nicht nur fuer die Situation innerhalb Afghanistans, ueber ihre Rechte als Frauen, sondern auch ueber die Situation der Frauen rund um die Welt, die Freiheit, die sie haben, die Menschenrechte, die sie haben. Wir glauben, es ist sehr wichtig, die junge Generation zu unterrichten, weil die Fundamentalisten nicht nur unsere Vergangenheit und unsere Gegenwart zerstoert haben, sondern auch unsere Zukunft. Das ist unsere Verantwortung: die Zukunft wieder aufzubauen.


Newshost:

Bolandi, Polen: Was halten die normalen Menschen, insbesondere Maenner, die Ehemaenner, von der schlimmen Situation der Frauen im Taliban-regierten Afghanistan?


Sahar Saba:

Die meisten Maenner, die meisten Familien, hassen die Taliban. Ich wuerde behaupten, dass sie die Entfernung der Taliban aus der politischen Szene sehen wollen, weil sie des Krieges muede sind, sie sind der Zerstoerung muede, sie sind der Greueltaten muede, der Brutalitaeten, die man so nirgends sonst in der Welt findet. Das ist der Grund, aus dem kein Mensch ein Regime wie das der Taliban oder der Fundamentalisten in Afghanistan bejahen kann.

Ein weiteres Thema ist: warum gibt es keine sichtbare Widerstandsbewegung? Menschen mit leerem Magen und leeren Haenden treten einem Feind entgegen, der mit dem Gewehr spricht ­ von diesen Menschen kann man keinen Widerstand erwarten. Aber die Menschen sind mit der Lage nicht zufrieden, und sie wollen, dass sich die Situation aendert.


Newshost:

Chaman, San Franzisko, USA: Glauben Sie, dass es Frauen gibt, die sich freiwillig verschleiern, um sich zu schuetzen und aus religioesen Gruenden? Sogar in einem freien Land wie den USA gibt es Frauen, die sich verschleiern.


Sahar Saba:

Ja, die kann es geben, sogar in Afghanistan, aber das Problem mit der Burqa in Afghanistan und der Grund, warum viele Frauen dagegen sind, ist, dass es ihnen mit Gewalt aufgezwungen wurde, sich zu verschleiern - ansonsten waere es ein Entscheidungsrecht der einzelnen Frau , ob sie sich verschleiert oder nicht. Es ist wichtig, dass DU dieses Recht hast. Ja, viele Frauen haben sich aus religieosen Gruenden oder anderen Gruenden verschleiert. Aber das darf kein Zwang sein, das ist der Punkt im heutigen Afghanistan.



Aus: http://newsvote.bbc.co.uk/hi/english/talking_point/forum/newsid_1600000/1600874.stm



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